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Die polnische Ratspräsidentschaft treibt die Reform der EU-Fluggastrechte mit auffallender Geschwindigkeit voran und bringt damit nicht nur Verbraucherschützer, sondern auch das Europäische Parlament in Alarmbereitschaft. In Brüssel wächst die Sorge, dass die Verordnung in zentralen Punkten zulasten der Passagiere verschärft wird - und das ohne angemessene parlamentarische Beteiligung.
Berichten zufolge plant Polen, den Vorschlag im Ministerrat bereits in der ersten Lesung abzuschließen, bevor das Europäische Parlament seine Position festgelegt hat. Damit droht eine systematische Schwächung des Legislativrechts des Parlaments – ein Vorgang, der in Brüssel nicht nur als rechtsstaatlich fragwürdig, sondern auch politisch fatal gilt. Denn gerade in Zeiten wachsender EU-Skepsis in vielen Mitgliedstaaten braucht es Transparenz, Teilhabe und starken Verbraucherschutz – nicht neue Angriffsflächen für Populisten.
Die polnische EU-Ratspräsidentschaft, die den Vorsitz im Rat der EU für das erste Halbjahr 2025 innehat, treibt die Reform der EU-Fluggastrechteverordnung (EG Nr. 261/2004) mit bemerkenswerter Geschwindigkeit voran. Bereits beim nächsten Treffen des Verkehrsministerrates am 5. Juni soll über den Entwurf abgestimmt werden – ein Zeitplan, den viele Beobachter als ungewöhnlich ehrgeizig bewerten.
Die Reformvorschläge sind tiefgreifend: Geplant ist unter anderem eine Anhebung der Schwellenwerte für Entschädigungen bei Flugverspätungen (künftig erst ab fünf Stunden auf Kurz- und neun bis zwölf Stunden auf Langstrecken), eine Erweiterung der außergewöhnlichen Umstände (u. a. technische Defekte, Streiks, Krankmeldungen) sowie eine mögliche Neuregelung der Entschädigungshöhen.
Was viele in Brüssel jedoch besonders irritiert: Polen erwägt offenbar, das Gesetz in erster Lesung im Ministerrat zu finalisieren, bevor das Europäische Parlament seine Position verabschieden konnte. Ein solches Vorgehen würde das übliche Miteinander im sogenannten ordentlichen Gesetzgebungsverfahren unterlaufen und etwaige Nachbesserungen oder Änderungsvorschläge des Parlaments mit deutlich höheren Hürden belegen.
Offiziell spricht Polen von einem „dringenden Bedürfnis nach Klarheit“ für die Luftfahrtbranche. Beobachter vermuten jedoch, dass es vor allem darum geht, in der kurzen Amtszeit konkrete Ergebnisse vorzuweisen – auch, um sich gegenüber der Kommission und den Airlines als reformfreudiger und wirtschaftsfreundlicher Akteur zu profilieren.
Im Zentrum der aktuellen Kritik steht nicht nur der Inhalt der Reform – sondern der politische Stil, mit dem sie vorangetrieben wird. Denn das ordentliche Gesetzgebungsverfahren, wie es in Artikel 294 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) geregelt ist, sieht eine gleichberechtigte Mitwirkung von Europäischem Parlament und Ministerrat vor.
Der Ablauf:
Doch: Laut übereinstimmenden Berichten plant Polen, als Ratsvorsitz bereits im Juni eine vollständige Ratsposition zu verabschieden, und zwar noch bevor die Stellungnahme des Parlaments vorliegt. Zwar ist der Rat nicht verpflichtet zu warten, doch eine derart aggressive Vorfestlegung ist politisch höchst umstritten. Kritiker sprechen von einer „strategischen Abkürzung“, um parlamentarische Änderungen zu erschweren: Denn das Parlament müsste die Ratsposition dann mit absoluter Mehrheit ändern, was faktisch selten gelingt. Damit wird nicht nur der Verbraucherschutz geschwächt, sondern auch das Vertrauen in die institutionelle Fairness europäischer Politik beschädigt.
Im Europäischen Parlament stößt das Vorgehen der polnischen Ratspräsidentschaft auf überfraktionelle Kritik – und zwar nicht nur wegen der inhaltlichen Schwächung der Fluggastrechte, sondern vor allem wegen der Art und Weise, wie die Reform durchgesetzt werden soll.
Abgeordnete mehrerer Fraktionen, darunter die Grünen/EFA, S&D und Renew Europe, äußerten deutliche Bedenken. In Hintergrundgesprächen ist von einem "institutionellen Dammbruch" die Rede, sollte Polen tatsächlich versuchen, das Parlament durch ein formales Vorziehen der ersten Ratslesung faktisch zu übergehen.
Auch die Kritik aus dem Verkehrsausschuss (TRAN) wird lauter. Dort heißt es, das Vorgehen der Ratspräsidentschaft „stelle das Gleichgewicht zwischen Parlament und Rat in Frage“ und sende in einer Zeit wachsender EU-Skepsis ein verheerendes Signal an die Öffentlichkeit.
Besonders brisant: Einige Abgeordnete sprechen offen von einem politischen Kalkül. Es sei auffällig, dass die Fluggastrechte "ausgerechnet bei einem wirtschaftsnahen Thema" geschwächt werden sollen – und dass dies "auf dem Weg über das Hinterzimmer" geschehe.
Während Polen den Druck erhöht, den Reformvorschlag noch vor Ende seiner Ratspräsidentschaft im Juni 2025 durch den Ministerrat zu bringen, zeigt sich in den Gremien der Mitgliedstaaten ein gespaltenes Meinungsbild.
Mehrere Länder, darunter Österreich, Schweden, die Niederlande und die Slowakei, haben sich deutlich gegen eine Anhebung der Mindestwartezeit für Entschädigungen ausgesprochen. Auch das niederländische Verkehrsministerium ließ verlauten, dass eine Verlängerung der Wartezeit nur dann denkbar sei, wenn sie mit einer Erhöhung der Entschädigungshöhen einhergehe. Von solchen Anpassungen ist im aktuellen Entwurf jedoch keine Rede.
Italien hingegen unterstützt die Reformpläne und spricht von einer längst überfälligen Anpassung an die wirtschaftliche Realität der Airlines.
Die Haltung Deutschlands gilt bislang als unklar. Die neue Bundesregierung hat sich in den bisherigen Ausschusssitzungen weder zur Frage der Schwellenwerte noch zu den Ausnahmekatalogen oder zum Verfahren selbst festgelegt. Diese Zurückhaltung sorgt bei Verbraucherschützern und auch innerhalb des Europäischen Parlaments zunehmend für Kritik.
Ob der Ministerrat eine qualifizierte Mehrheit für den aktuellen Entwurf findet, ist offen. Klar ist jedoch: Die Fronten verlaufen nicht entlang geografischer oder parteipolitischer Linien, sondern spiegeln unterschiedliche Bewertungen von Verbraucherschutz, Standortpolitik und regulatorischer Zurückhaltung wider.
Was mit einer scheinbar technischen Reform der Fluggastrechte beginnt, entwickelt sich zunehmend zu einer grundsätzlichen Frage der politischen Kultur in Europa. Denn die Art, wie Gesetze entstehen, ist nicht nebensächlich – sie entscheidet darüber, wer mitgestaltet, wer gehört wird und wie sehr Bürgerinnen und Bürger den europäischen Institutionen vertrauen können.
Wenn der Verbraucherschutz, einer der wenigen EU-Erfolge, der im Alltag konkret spürbar ist, durch Verfahrensabkürzungen und politisches Kalkül geschwächt wird, verspielt die EU genau das, was ihr noch Vertrauen verschafft: offene Grenzen, wirtschaftlicher Ausgleich und der Einsatz für demokratische Werte. Ausgerechnet dort, wo die Union zeigen könnte, dass sie konkret schützt, droht sie ihre Wirkungskraft zu verlieren.
Gerade in Zeiten, in denen rechtspopulistische Parteien in ganz Europa auf dem Vormarsch sind und das Vertrauen in „Brüssel“ schwindet, wäre es ein gefährliches Signal, wenn die EU in einem so alltagsrelevanten Bereich wie dem Flugverkehr den Eindruck vermittelt: Die Interessen der Industrie zählen mehr als die Rechte der Menschen.
Rechtsanwalt Carl Christian Müller Vertragsanwalt der SOS-Flugverspätung ist Rechtsexperte für Reiserecht
"Ob die Fluggastrechte auch künftig ein Beispiel für gelebten Verbraucherschutz in Europa bleiben – oder zu einem Symbol für Demokratieabbau und Brüssel-Frust werden – entscheidet sich in diesen Wochen.".